Das halbe Ich

Es ist alles nur halb so schlimm: wir sind nur halb da, nur halb sichtbar, nur halb so schnell, nur halb erreichbar – zu Hause, in der Welt, im Leben.

Letztes Jahr hatte ich das Jahr meines Lebens. Es war ereignisreich. Ich hatte viele, tolle Begegnungen und ich habe vieles für mich erkannt und entdeckt. Nun scheint es mir, als ob es eine Vorbereitung gewesen ist, auf das, was jetzt ist. Diese ganze mentale Stärke, die ich mir in dem letzten Jahr aufgebaut habe, kommt mir jetzt zugute. Und so positiv ich das auch sehen will und so sehr ich das Gute in allem sehen möchte, es gelingt mir eher semi gut. Ich bin wütend. Es ist aber keine spürbare Wut. Mein Herz pulsiert nicht, meine Gliedmaßen zittern und brennen innerlich nicht und sind nicht kurz davor zu platzen. Ich verliere auch nicht meine Nerven und raste blind aus, ohne zu wissen, was ich tue. Ich sitze nur da und bemerke, dass es mehr einer Machtlosigkeit gleichkommt – man weiß einfach nicht was kommen wird. Und trotz der Gelähmtheit und der Machtlosigkeit muss es ja irgendwie weitergehen. Manchmal mache ich mir dann To-Do-Listen im Kopf, um eine Struktur in meinen Alltag zu bekommen: aufstehen, Kaffee kochen, Kaffee trinken, frühstücken, Sport machen, einkaufen gehen, essen, schlafen. Wenn ich das dann alles geschafft habe, geht es mir gut. Vor Corona sah mein Tagesablauf fast genauso aus – nachdem die Masterarbeit fertig war – nur, dass ich dann meinen Tag noch damit gefüllt habe, Bewerbungen zu schreiben und zum Praktikum zu gehen. Jetzt geht das zwar auch – ohne das Praktikum –, aber momentan gibt es keine Jobs. Ich kann also „auf gut Glück“ und einfach so „aus Spaß“ ein paar Bewerbungen schreiben. Es ist ein bisschen wie früher, als ich noch im Mutterschaftsurlaub war. Den ganzen Tag hatte ich etwas mit meinem Kind gemacht bzw. für das Kind. Jetzt geht das nur noch so semi, da mein Kind alt genug ist, um das meiste für sich selbst zu tun. Auch toll, sei hier mal kurz angemerkt. Das bedeutet nämlich auch, dass ich wieder mehr Zeit für mich und die Dinge habe, die mir auch am Herzen liegen – das Schreiben, zum Beispiel. Ihr bemerkt hier vielleicht schon die Zerrissenheit zwischen „Zeit für sich haben“ und der Frage: „Was soll ich nur tun?“. Haltet mich für verrückt, aber ICH WILL ARBEITEN und meine Zeit sinnvoll verschwenden. Ich will frei sein, um alles tun zu können, was ich möchte.

Vor einer Woche bin ich zurück in meine Wahlheimat Hamburg gezogen. Ich glaube es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich mir diesen Umzug und das Wiedereinleben in Hamburg anders vorgestellt habe. Fast drei Wochen habe ich nun darüber nachgedacht mit welchem „tollen“ Blogbeintrag ich euch beglücken könnte und das ist das Einzige, was mir eingefallen ist, weil einfach nichts los ist. Aber es ist ja alles nur halb so schlimm, denn ich bin hier, ich bin gesund, meine Familie ist gesund, meine Freund*innen sind gesund. Und trotz allem sind wir zusammen, tun etwas für uns und warten darauf, dass es vorbeigeht. Was hat das mit meinem Körper zu tun? Erstmal nichts. Dann aber doch sehr viel, denn der Geist ist erschöpft vor Langeweile und vor Angst vor dem Unbekannten und das schlägt aufs Gemüt und auf ein positives Körpergefühl. Mein Trick dagegen: Egal, ob ich rausgehe oder nicht, immer duschen und sich etwas, für sich Schönes, anziehen. Manchmal trage ich auch, einfach nur so aus Spaß, Lippenstift auf, weil es sich für mich gut anfühlt. Dann liege ich schön angezogen und mit tollem Lippenstift in meinem Bett. Komplett fertig angezogen und geschminkt im Bett zu liegen, statt mit Schlafanzug, ungeschminkt und ungeduscht, gibt mir das Gefühl die Kontrolle zu habe – nicht die 600 Packungen Klopapier (Hamsterkäufe habe ich leider auch total verpasst – oder zum Glück?). Lippenstift also als Mittel der Kontrolle (Mascara trage ich übrigens auch auf). Tja Leute, sorry, so ist mein Leben gerade: Alles nur halb so schlimm, aber auch nur halb so spannend, halb so spaßig und nur halb so schön.

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