„Sei nicht so empfindlich!“ Kennt ihr diesen Ausdruck auch, habt ihr ihn auch schon gehört? Der Ausdruck, dass du die andere Person nicht verstehst, diese nette Person, die es nicht so meint — ihren Witz, ihre Aussage. Du bist verletzt, hast aber nicht verletzt zu sein, du findest es grenzüberschreitend und beleidigend, hast es aber nicht so zu finden, weil es ja nicht so gemeint ist — du bist einfach empfindlich. Empfindlichkeit ist keineswegs eine Bezeichnung für „jeder Mann“, sondern meistens ist es eine Bezeichnung, um Reaktionen von Kindern und Frauen zu beschreiben, auf Situationen, Aussagen und Begebenheiten, die sie als verletzend empfinden. Auch Männer, die nicht dem stereotypischen Männerbild entsprechen, werden öfter mal als empfindlich bezeichnet. „Sei nicht so empfindlich“ ist ein ziemlich gängiger Ausdruck, um klarzumachen, dass ja nichts „wirklich“ Schlimmes gesagt oder getan wurde. Somit impliziert Empfindlichkeit in diesem Kontext, dass nicht die Dinge, die gesagt werden problematisch seien, sondern nur die Person, die darauf „empfindlich“ reagiert das Problem habe. Dann wird oft gesagt, dass er*sie es ja nicht böse meine, womit er*sie seine Aussage, sein Verhalten versucht zu legitimieren und nicht auf die Bedürfnisse eingeht, die der*die Gegenüber hat. Gefühle werden nicht ernst genommen und die Person, die verletzt gibt sich somit sehr viel Raum, um zu verletzen. Indem der*die Verletzte die Grenze nicht aufzeigt und die eigenen Gefühle nicht kommuniziert, wird dieser Raum auch legitimiert.
Jahrelang hatte ich die Befürchtung als humorlos zu gelten, wenn ich Menschen sage, dass sie zu weit gingen. Weil: ist ja nur Spaß, weil: meint die Person ja nicht so. Noch schlimmer wurde es, als ich selbst zur „Täterin“ wurde und selbst dumme Witze machte, die „nur Spaß“ waren. Menschen haben mir dann deren Grenzen aufgezeigt. Menschen, die ich mochte und respektierte. Irgendwann wurde mir klar, dass ich so nicht sein möchte und auch nicht möchte, dass andere so zu mir sind. Klar, dass ich da auch familiär geprägt war. Diese Art von Humor ist in meiner Familie klar verbreitet, genauso wie der Satz „Sei nicht so empfindlich“, meistens gepaart mit dem Ausdruck „Du musst mal cooler werden“. Und klar, dass es nicht einfach ist erstmal selbst zu verstehen, dass es nicht bedeutet humorlos zu sein, wenn wir irgendwann anderen Menschen unsere Grenzen aufzeigen und sagen, dass es genug ist und bemerken, dass die andere Person das Problem hat, wenn sie uns als empfindlich, uncool und humorlos bezeichnet.
Natürlich war das, wie immer, ein Prozess, den ich durchlaufen musste, um zu verstehen, dass es okay ist sich so zu fühlen und so zu sein. Dennoch war es ein komisches Gefühl zu Beginn anders als sonst auf Aussagen und Dinge zu reagieren, als es die Menschen gewohnt waren — nahestehende und auch entfernte Personen. Als ich das meinem Bruder letztens erzählte, dass ich viele Sachen gar nicht witzig finde, die in unserer Familie „humorvoll“ gesagt werden und es mir aber mittlerweile total egal ist, ob ich ihrer Meinung nach „noch“ Humor habe oder nicht, hatte ich kurz fast ein bisschen Angst vor seiner Reaktion und dass er mich auch humorlos finden könnte. Aber er gab mir einfach recht und sagte sogar, dass er das genauso sehe. Als ich mich erstmal entschieden hatte „humorlos und empfindlich“ zu sein, merkte ich, dass es nicht schlimm war und mir sehr viel Freiheit gab, so zu sein wie ich bin: privat, bei der Arbeit, in allgemeinen zwischenmenschlichen Kommunikationen. Ich habe bemerkt, dass es mir Selbstbewusstsein gab und Frustration vermindert.
Letztens war ich zum Beispiel beim Arzt für einen Ultraschall meines Magens. Nach einer Weile fragte mich der Arzt, wie viele Kinder ich denn habe, ich antworte eins und fragte neugierig, ob er das denn im Ultraschall sehen könne. Er antwortete nein, er frage wegen meiner Schwangerschaftsstreifen. Sofort merkte ich, dass das nicht cool war für mich und konterte: „Na gut, dass ich nicht einfach nur fett war!“ Der Arzt lachte kurz und sagte dann verlegen, dass man schon erkennen könne im Ultraschall, dass die Gebärmutter gearbeitet habe. Bullshit! Damit nicht genug, er fing an mir zu erklären, dass ich Sport machen solle wegen meiner Magenprobleme. Interessant. Aus irgendwelchen Gründen nahm er also an, dass ich das nicht täte. Ich sagte ihm dann, dass ich Sport machte und das auch schon seinem Kollegen gesagt habe und ob das nicht in der Akte stehe oder ob er sie überhaupt gelesen habe. Darauf antwortete er nicht wirklich, sagte nur jaja und dass ich dann nochmal einen Termin bei dem anderen Arzt machen solle, um den Befund zu besprechen.
Alles an dieser Situation fand ich unmöglich — das Ansprechen meiner Schwangerschaftsstreifen, das Implizieren, dass ich keinen Sport machte –, obwohl der Arzt es in keinem „bösen“ Ton sagte. Die Menschen, denen ich es erzählte, empfanden es als genauso unmöglich — natürlich, weil es das auch war! Klar, kam mir der Gedanke, dass meine Reaktion zu empfindlich gewesen sei, weil ich ja Schwangerschaftsstreifen habe und sie auch nicht schlimm sind. Die Problematik war eher, dass er eine Schwangerschaft voraussetzte, die es vielleicht gar nicht gegeben hatte — ich hätte auch sehr übergewichtig gewesen sein können. Als nächstes Problem ergibt sich, dass die Person, die es anspricht, damit zeigt, dass sie „es“ sieht, was im Allgemeinen zeigt, dass es sich um ein äußerliches Defizit handelt, weil es sonst nicht angesprochen werden müsse. (Eine Frau ohne Schwangerschaftsstreifen hätte er nicht gefragt wie viele Kinder sie denn habe.) Ich wurde in der Vergangenheit oft angesprochen auf meine Schwangerschaftsstreifen. Manche fragten aus Neugier, manche weil sie sie nicht schön fanden, manche wussten gar nicht warum sie fragten.
Warum ist es so schlimm zu fragen, es anzusprechen oder vorauszusetzen, dass eine Frau schwanger war, wenn sie Schwangerschaftsstreifen bzw. Dehnungsstreifen hat? Weil es somit als nichts Normales empfunden wird, etwas das nicht normal „schön“ ist. Um eine Normalität zu schaffen, was Schönheit angeht, müssen wir anfangen es auch als normal anzusehen und das gelingt uns nur, wenn wir nicht die ganze Zeit darüber sprechen. Und wenn wir das nun in den Empfindlichkeitskontext setzen, dann möchte ich sagen: Menschen, die anderen ihre Grenzen aufzeigen und klarstellen, dass manche Dinge verletzend sind, sind nicht empfindlich! Menschen, die beleidigende Dinge sagen oder sich die Legitimation nehmen Witze auf Kosten anderer zu machen, sie einfach auf ihr Aussehen anzusprechen oder etwas vorauszusetzen aufgrund ihres Aussehens, sind unhöflich und unsensibel. Das Problem liegt nicht bei dem*der Verletzten, es liegt bei der Person, die beleidigt! Es ist wichtig das zu verstehen und sich für sich selbst stark zu machen. Natürlich, jede*r hat eine andere Humorgrenze. Manche werden Aussagen als schlimm empfinden, die andere in Ordnung finden und das ist auch okay — genauso ist es okay, Menschen die eigenen Grenzen aufzuzeigen. Es ist wichtig, es sich nicht nehmen zu lassen für sich selbst einzustehen. In diesem Sinne: Hab Mut humorlos zu sein! Sei du! Sei schön!
Hm, das sehe ich ehrlich gesagt etwas anders.
Ich habe auch von Geburt an eine Augenlidschwäche. Ein Auge ist damit kleiner als das andere.
Manchmal werde ich danach gefragt und erkläre es dann eben und gut.
Ich hatte, wenn jemand normal danach fragt, nie das Gefühl, dass es als hässlich assoziiert würde.
Im Gegenteil, würde ich empfindsam darauf reagieren, würde mir das selbst zeigen, dass da noch etwas in mir selbst ist, das mich verletzt. Weil ich es selbst nicht als normal oder mir selbst zugehörig akzeptieren würde.
Sprich: Werden wir getriggert, liefert das Rückschlüsse darauf, dass wir noch Wunden in uns tragen.
Denn, wären da nicht wunde Punkte in uns, würde es uns nicht emotional aufwühlen.
Berurflich gesagt, wenn man im medizinischen Bereich arbeitet, dann stellt man solche Fragen oftmals primär aus Gründen der Anamnese. Um Informationen zu sammeln, über Krankheitsentstehung, entsprechende Vorgeschichte, Lebensgewohnheiten, Medikamente usw. um diagnostisch betrachtet einen genaueren Überblick zu erlangen.
Daher denke ich dass die Äußerung des Arztes mehr eine analytische und weniger eine abwertende Intention hatte.
LG
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Auch hier danke ich dir für deinen Comment. Ja, da sind wir definitiv unterschiedlicher Meinung. Natürlich dienen Fragen von Mediziner:innen auch der Anamnese, keine Frage, im Beispiel meiner Geschichte ist das aber nicht der Fall gewesen. (Der Arzt war nicht mein behandelnder Arzt und hatte meine Akte leider auch nicht gelesen.) Ich finde es sehr wichtig auch Aussagen von Mediziner:innen zu hinterfragen und nicht alles, was sie sagen mit ihrem Beruf zu erklären — auch hier ist Vorsicht geboten. Die Kernaussage, um die es aber in meinem Post geht ist vor allem, dass teilweise Dinge von Menschen gesagt oder getan werden, die nicht nett sind und auch beleidigend sein können. Oft werden die Menschen, die das nicht witzig finden dann als empfindlich abgestempelt, obwohl sie einfach ihren Unmut über die Aussagen oder die Verletzung äußern.
Das Argument mit den wunden Punkten finde ich ebenfalls schwierig. Es ist eine Art victimization, da es der Person, die vermeintlich empfindlich reagiert, abgesprochen wird wütend oder verletzt über etwas zu sein, das zu ihr gesagt wurde. Der Person, von der die (unfreiwillige) Beleidigung ausgeht, wird somit der Handlungsspielraum gegeben sich ungeachtet der Gefühle anderer zu verhalten wie sie es möchte. Wenn ich wütend oder verletzt über ein bestimmtes Verhalten oder bestimmte Aussagen bin heißt das nicht, dass ich mit mir selbst nicht im Reinen bin oder noch Wunden in mir trage, ich kann auch einfach sehr wütend über eine Grenzüberschreitung sein (und ich meine hierbei eine unsensible Aussage oder eine vermeintlich witzige Aussage; ich meine explizit nicht nettes Nachfragen — obwohl ich da trotzdem denke: Warum muss gefragt werden, warum können Äußerlichkeiten nicht auch einfach so akzeptiert werden wie sie sind). Ich denke, da sollte unterschieden werden.
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Hey,
Danke für deine Antwort.
Ich denke ehrlich gesagt nicht, dass der Blick in sich selbst bedeutet, dass einem damit die eigenen Gefühle und damit verbunden diese zum Ausdruck zu bringen abgesprochen wird.
Vielmehr bedeutet es nicht nur seinen Blick nach Außen (Ausdruck der eigenen Emotionen an das Gegenüber) zu richten, sondern auch sich selbst zuzuwenden (wo spüre ich diese Emotion? Was war der Auslöser? Welche Gedanken kommen dabei hoch?)
Vielmehr sehe ich die Betrachtung der eigenen Triggerpunkte auch in Sachen Selbstliebe als Tool sich selbst weiter zu entwickeln und achtsamer mit sich selbst umzugehen. Besonders auf der Gefühlsebene.
Beispielsweise wird dies in Sachen achtsamkeitsbasierter Techniken oftmals angewandt. Oder auch z.B. in der Behandlung von Betroffenen mit emotionaler Instabilität (zu denen ich selbst zähle). Da hierbei auch oftmals eine stark ausgeprägte Empfindsamkeit auf emotionaler Ebene gegeben ist. Man spricht hier auch von verschiedenen Stärkegraden innerer Anspannung.
So lernt man, nachdem diese Anspannungszustände herunter reguliert werden, in sich zu gehen, und auch zu schauen was in der Außenwelt der Auslöser für das eigene innere Empfinden war. Und dann auch entsprechend, um eben seinen Gefühlen Raum zu geben, wie man diese zum Ausdruck bringen kann, durch das Suchen eines Gesprächs, entsprechendem Ausdruck usw.
Dies kann auch von nicht Betroffenen angewandt werden.
Bedeutet nicht, dass hierbei eine Viktimisierung im Sinne von zu empfindsam zu sein vorliegt.
(Sorry falls dieser Exkurs zu lang war :))
Ja, da stimme ich dir zu. Selbst Ärzte sollten hinterfragt werden.
Wie gesagt, auf das Beispiel mit meinem Auge passiert mir das auch immer wieder.
Oder manchmal werde ich auch zu meinen Narben (Thema selbstverletzendes Verhalten) von damals befragt.
Ich denke hierbei nicht, dass jeder eine negative Absicht hat, wenn er mich fragt woher diese stammen. Oder warum ich das gemacht habe.
Ich denke das kommt dann auch immer auf die Situation und wie der Mensch es zum Ausdruck bringt drauf an.
LG
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Klar, der Blick nach innen ist wichtig und gut. Manche Menschen, die sehr reflektiert sind und den Blick oft nach innen wenden, tendieren aber auch dazu Fehlverhalten zu entschuldigen bzw. zu erklären. Manchmal ist es aber auch einfach okay zu sagen, dass etwas nicht okay ist, dass einen etwas stört und/oder persönliche Grenzen aufzuzeigen (egal aus welchen Gründen), ohne sexistischer (oder auch rassistischer) Stereotypisierung ausgesetzt zu sein — das ist letztendlich das, was ich mit diesem Blogbeitrag aussagen möchte. Und selbst wenn die Wunden der betroffenen Person noch nicht geheilt sind, dann ist das legitim und besonders ein Grund für andere es nicht anzusprechen und nicht drüber zu reden.
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